Das
Bild des Guten Hirten zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel,
von der Genesis bis zur Geheimen Offenbarung des Johannes. Aber es ist
keine Erfindung des jüdischen Volkes oder des Christentums. Das Motiv
des Guten Hirten ist wesentlich älter und begegnet uns in verschiedenen
Formen schon in vorbiblischer Zeit.
Der Hirtenberuf
gehört zu den archaischen Berufen der Menschheit. Nicht nur die Nomadenvölker
im Alten Orient, sondern auch die Bewohner des ersten Städte waren mit ihm
vertraut. In sumerischen, babylonischen, assyrischen und ägyptischen Inschriften
und Texten wird das Wort "Hirte" oder "Guter Hirte" erwähnt,
meist als ehrenvoller Beiname eines Herrschers oder Königs. Hammurabi, der
um 1792 vor Christus Herrscher des babylonischen Reiches wurde, bezeichnet sich
selbst als "guter Hirte, der von den Götters dazu ausersehen wurde,
Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, damit der Starke den Schwachen nicht
entrechte." Im alten Ägypten wird der Himmelsgott als Hirte bezeichnet.
Er schenkt Leben und bewahrt es in der Ewigkeit: "Wer deinen Namen ausspricht,
dem bist du ein Hirte, den setzt du in das Fahrwasser deines Gebots." Auch
der Pharao soll das Volk wie ein Hirte seine Schafe gegen Feinde beschützen.
Entsprechende Darstellungen zeigen ihn mit einem über die Brust gekreuzten
Krummstab.
Auch die Bibel beginnt mit der Gestalt eines Hirten: Abel, der zweite Sohn von
Adam und Eva, ist ein Schafhirte (Gen 4,2), sein Bruder Kain dagegen Ackerbauer.
Das Alte Testament greift das Biild des Hirten auf, interpretiert es neu und paßt
es der besonderen Rolle des Königtums in Israel an. Abraham, Joseph, Jakob,
Rachel, Moses, David und der Prophet Amos sind Hirten und stehen stellvertretend
für das ganze israelitische Volk auf seiner Suche nach Gott. Sie weisen den
Weg und sind Begleiter, sie schützen die ihnen Anvertrauten und sorgen für
ihr körperliches und seelische Wohl. Der berühmte Psalm 23 vergleicht
Jahwe mit dem Guten Hirten: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.
Er läßt mich lagern auf grünen Auen."
Schließlich tritt im Neuen Testament der christologische Aspekt des Hirtenbildes
in den Vordergrund. Jesus sagt: "Ich bin der gute Hirte." Er ist "zu
den verlorenen Schafen gesandt, um das Verlorene zu suchen und zu retten".
Christus ist Hirte in einem universalen Sinne - nicht nur für Israel, sondern
für alle Menschen. Neben der treuen Führung, der rettenden und helfenden
Fürsorge erscheint hier als neuer Zug des Hirtenamtes die Bereitschaft des
Guten Hirten, sein Leben hinzugeben für seine Schafe (Joh 10,11).
Die christliche Kunst hat das Motiv des Hirten schon seit den Tagen der ersten
christlichen Gemeinden aufgegriffen. Am bekanntesten ist wohl die Darstellung
des Guten Hirten, der ein Lamm auf seinen Schultern trägt. Dieses Bild taucht
bereits auf Fresken in den römischen Katakomben auf und zeigt die Liebe Jesu,
seine Bereitschaft, dem Verlorenen nachzugehen und Zeit und Kraft einzusetzen
für jeden einzelnen Menschen. Wie Jesus sind auch wir aufgerufen, Verantwortung
zu übernehmen, mutig neue Wege zu weisen und Zeugnis abzulegen für Gottes
Treue und Barmherzigkeit.
"Hirte" zu sein, ist nicht nur ein Amt, sondern eine Verantwortung und
ein Dienst. In besonderer Weise sind die Leiter der christlichen Gemeinden diesem
Hirtendienst verpflichtet. Das Wort "Pastor" bedeutet "Hirte",
die Bischöfe tragen einen Hirtenstab, und nicht zuletzt ist der Bischof von
Rom als Papst und Nachfolger Petri ein "Hirte der Kirche".
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